Ein Jahrzehnt des Krieges: Russland in Welt- und Bürgerkrieg

Workshop | DHI Moskau (10.–11.10.2011)

In der internationalen Geschichtsschreibung besteht Konsens über die epochemachende Bedeutung des Ersten Weltkriegs. Etikettiert als »Urkatastrophe«, »Deutsche Katastrophe«, »Great War« oder »La Grande Guerre«, als Ende des »langen 19. Jahrhunderts« oder Auftakt zum »Zeitalter der Extreme« gilt der Erste Weltkrieg heute als Schlüsselereignis des frühen 20. Jahrhunderts. Ungeachtet des großen Interesses am Ersten Weltkrieg wurde dessen Bedeutung für den Osten Europas und speziell Russland jedoch vergleichsweise wenig thematisiert. In der Sowjetunion war der Krieg über Jahrzehnte ein »vergessener Krieg«. Weder hatte er einen festen Platz in der öffentlichen Erinnerung, noch war er Gegenstand des geschichtswissenschaftlichen Interesses. Auch die Vertreter der internationalen Geschichtswissenschaft haben den Weltkrieg in seiner Bedeutung für die Entwicklung Russlands eher stiefmütterlich behandelt und ihren Fokus auf die Oktoberrevolution und deren Folgen gerichtet. Dies führte dazu, dass zahlreiche Dimensionen des Krieges – angefangen von seinen lokalen Ausprägungen bis hin zum Komplex der Kriegserfahrung und –erinnerung – bisher nur punktuell bearbeitet wurden. Die sowjetische Meistererzählung vom »Großen Oktober« und die Orientierung der internationalen Russlandhistoriographie an den politischen und ideologischen Zäsuren des Jahres 1917 haben darüber hinaus dazu geführt, dass man Weltkrieg und Bürgerkrieg in Russland lange isoliert voneinander untersuchte: Während der Weltkrieg vielfach als »Anfang vom Ende« galt, reduzierte man den Bürgerkrieg häufig auf die politische Auseinandersetzung zwischen »Roten« und »Weißen«.

Jüngere Forschungen zum Zusammenhang von Krieg und Gewalt in der Zwischenkriegszeit und den »Grenzen der Demobilisierung« nach dem offiziellen Ende der internationalen Kampfhandlungen liefern wertvolle Impulse für die Neubewertung der russischen Geschichte im frühen 20. Jahrhundert. Vor allem in den Randgebieten der multinationalen Imperien folgte auf den Ersten Weltkrieg eine Reihe von gewaltsamen »Nachbeben« (Aftershocks), bei denen ethnische, soziale und politische Motive der Gewaltanwendung einander überlappten und die Trennung zwischen zivilen und (para-)militärischen Akteuren zunehmend verwischte. Mitunter machte die in den betroffenen Regionen lebende Bevölkerung nun sogar unmittelbarere Gewalterfahrungen als in den Jahren des Ersten Weltkrieges. Die zahlreichen Beispiele aus Gebieten des ehemaligen Zarenreichs, des Osmanischen Reichs und der Habsburgermonarchie legen einen Zusammenhang zwischen der Auflösung des zentralstaatlichen Gewaltmonopols während des Krieges und dem Aufkommen von parastaatlicher bzw. paramilitärischer Gewalt nahe. Das große Ausmaß an antikommunistischer Gewalt in Deutschland, Ungarn und Österreich lässt wiederum auf einen Konnex zwischen der Erfahrung von militärischer Niederlage und Revolution auf der einen und der Zunahme von Gewalt außerhalb von staatlichen Strukturen auf der anderen Seite schließen. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird nicht nur die Frage nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neu gestellt, sondern auch über einen möglichen strukturellen Zusammenhang von Welt- und Bürgerkrieg nachgedacht.

Diese Forschungen ergänzen den gegenwärtigen Trend, den Zeitraum zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zur Konsolidierung der sowjetischen Herrschaft auch in Russland als epochale Einheit zu betrachten. Die inzwischen geläufigen Charakterisierungen der betreffenden Jahre als »Kontinuum der Krise« oder »Zeit der Wirren« legen den Schluss nahe, dass in den Gebieten des ehemaligen Zarenreichs ein impliziter Zusammenhang von Welt- und Bürgerkrieg unterstellt werden kann. Ähnlich wie in anderen Regionen, die nach dem Ersten Weltkrieg von bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschüttert wurden, durchlebte auch Russland eine tiefgreifende Herrschaftskrise, die in der Zunahme von paramilitärischer Gewalt und Versuchen lokaler Herrschaftsbildung Ausdruck fand. Darüber hinaus hatte der Weltkrieg einige strukturelle Veränderungen ausgelöst, welche sowohl das Revolutionsjahr 1917 als auch das Kriegsende überdauerten. Prominente Beispiele hierfür sind etwa die Versorgungspolitik der Bolschewiki, die nachweislich aus der Weltkriegserfahrung der zarischen Regierung schöpfte, das allgemeine Einverständnis darüber, dass militärisches Gelingen wesentlich davon abhing, ob die Bevölkerung zur Mobilisierung ihrer persönlichen und ökonomischen Ressourcen bereit war, sowie die wachsende Akzeptanz planwirtschaftlicher Steuerungsmethoden während des Welt und deren kompromisslose Anwendung während des Bürgerkriegs.

Der Workshop will diese Tendenzen aufgreifen und einen Beitrag zur Überwindung des regionalen Ungleichgewichts leisten, das die Erforschung des Ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit bis heute prägt. Durch den Versuch, das russische Erfahrungsspektrum in ein gesamteuropäisches Panorama zu integrieren, sollten die Möglichkeiten für eine »Normalisierung« der russischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts ausgelotet werden. In letzter Konsequenz zielt der Workshop damit auf die Beantwortung der Frage, ob sich Revolution und Bürgerkrieg wie lange üblich als Stationen eines russischen »Sonderwegs« interpretieren lassen, oder ob sie nicht eher als extreme Zuspitzung einer Krisensituation zu betrachten sind, mit der auch andere kriegsteilnehmende Staaten konfrontiert waren.


Programm:

Montag, 10. Oktober 2011


10:00 Eröffnung
Nikolaus Katzer (DHI Moskau)

10:15 – 11:30 Die imperiale Gesellschaft im Krieg

  • Alexander Semenov (Sankt Petersburg): Die Krise des Liberalismus im Russischen Imperium während der ersten Revolution und in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Perspektiven für einen Vergleich [russ]
  • Piotr Szlanta (Warschau): Polnische Bevölkerung und russische Besatzung in Galizien
  • Kommentar: Stig Förster

11:30 – 12:00 Kaffeepause

12:00 – 14:00 Akteure des Krieges

  • Franziska Davies (München): Die Nationalisierung der Armee? Muslimische Soldaten im Ersten Weltkrieg
  • Christopher Gilley (Regensburg): Die Otamany. Ukrainische Kriegsherren während des Russischen Bürgerkriegs
  • Alexander Sumpf (Strasbourg): Russische Kriegsinvaliden (1914 – 1929) [russ]
  • Kommentar: Gerhard Hirschfeld


14:00 – 15:30 Lunch

15:30 – 17:30 Die mediale Repräsentation des Krieges

  • Julia Zherdeva (Samara): Die Darstellung des Krieges in der Karikatur und ihre gesellschaftliche Rezeption (1914 – 1917) [russ]
  • Boris Kolonicky (Sankt Petersburg): Die Krankenschwester in der russischen patriotischen Kultur zur Zeit des Ersten Weltkriegs [russ]
  • Oxana Nagornaya (Cheljabinsk): Die Erinnerung an die Kriegsgefangenschaft in Literatur und Film: Erinnerungspolitik und individuelles Gedächtnis [russ]
  • Kommentar: Alan Kramer


18:00 Empfang am DHI Moskau

Dienstag, 11. Oktober 2011

10:00 – 12:00 Gewalt und regionale Ordnung

  • Igor Narsky (Cheljabinsk): Der Erste Weltkrieg und der Bürgerkrieg als Lernprozess: Der Krieg in den Lebenswelten der russischen Provinz (der Ural zwischen 1914 und 1921) [russ]
  • Vladimir Bobrovnikov (Moskau): Von der indigenen Herrschaft zur Scharia. Diskursanalyse von Appellen und Gesetzesprojekten des (post-)imperialen Dagestan zwischen Welt- und Bürgerkrieg [russ]
  • Oleg Budnicky (Moskau): Der Ursprung der antijüdischen Pogrome der Jahre 1918 – 1921 [russ]
  • Kommentar: Robert Gerwarth


12:00 – 12:30 Kaffeepause

12:30 – 14:30 Russland im Jahrzehnt des Krieges – Extremfall oder Sonderweg?

Runder Tisch mit
Jörg Baberowski
Dietrich Beyrau
Robert Gerwarth
Stig Förster
Gerhard Hirschfeld
Alan Kramer

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