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Reliquienauthentiken: Verborgene Schätze der frühmittelalterlichen Schriftkultur

Dr. Kirsten Wallenwein

Authentiken sind kleine Etiketten, mit denen Reliquien zur dauerhaften Identifikation versehen wurden. Sie sind aussagekräftige Zeugnisse, die von der Forschung lange Zeit wenig berücksichtigt wurden. Dr. Kirsten Wallenwein vom DHI Paris wirft ein neues Licht auf diese spannenden Artefakte. Welche Verbindungen zwischen Institutionen offenbaren sie?  Welche sprachlichen und schriftgeschichtlichen Entwicklungen dokumentieren sie? Und für welche literarischen Produktionen haben diese faszinierenden Quellen den Anstoß gegeben?


Reliquien sind die sterblichen Überreste von Heiligen oder Dinge, die mit Heiligen in Kontakt waren und deswegen selbst Gegenstand religiöser Verehrung wurden. Bei Reliquien kann es sich auch um Mitbringsel von den heiligen Stätten handeln, z. B. um „Erde vom Grab des Herrn“. Wurde nur eine Reliquie allein an einem bestimmten Ort beigesetzt, brauchte es kein spezielles Schriftzeugnis, um die Erinnerung an sie sicherzustellen. Dann bezeugten häufig die Patrozinien, die Schutzherrschaft eines Heiligen über eine Kirche und gaben darüber Auskunft, welche Heiligen dort verehrt werden. Anders sieht es allerdings aus, wenn mehrere Reliquien gemeinsam an einem Ort verwahrt werden sollten. Um verschiedene Reliquienpäckchen voneinander zu unterscheiden, etikettierte man jedes einzelne von ihnen. Diese Etiketten nennt man „Reliquienauthentiken“. Manchmal gab man dem Behältnis, in denen die Reliquien aufbewahrt wurden, noch eine Auflistung bei, eine sog. „Inventarauthentik“, welcher bei Bedarf der gesamte Inhalt bequem zu entnehmen war.

Dieser Dokumententyp der Reliquienauthentik entwickelte sich am Ende der Spätantike. Während im Mittelalter die Beschriftung durch einen länglichen Pergamentstreifen dominiert, sind in der Anfangsphase Authentiken ganz unterschiedlicher Materialität (z. B. Metall, Papyrus, Stein) und Form (z. B. auch hochrechteckig) anzutreffen. Wir müssen davon ausgehen, dass uns eine Vielzahl an Authentiken nicht überliefert ist und einige Stücke noch unentdeckt und undokumentiert in Reliquiaren und Altären schlummern.

Authentiken als bedeutende Schriftdenkmäler

Für eine Teildisziplin der Historischen Grundwissenschaften, die Paläographie (= Lehre von den alten Schriftarten), sind Authentiken von unschätzbarem Wert. Denn im Fall einiger frühmittelalterlicher Klöster hat sich außer den Authentiken keine andere frühe schriftliche Überlieferung vor Ort erhalten. Ein beeindruckendes Beispiel, welche Rolle ihnen bei der Identifikation einer lokalen Schrift zukommen kann, liefert das Königskloster Chelles bei Paris. Chelles war bereits 1957 vom Paläographen Bernhard Bischoff als Schriftheimat einer bestimmten Handschriftengruppe postuliert worden. Diese Hypothese konnte aber erst belegt werden, als dort im Jahr 1983 Authentiken zu über 170 Reliquien aufgefunden wurden. Auf mehreren der kleinen Pergamentstücke fand sich derselbe markante Regionalstil, den Bischoff davor als spezifische Schrift der Nonnen von Chelles vermutet hatte („b-Typ“).

Authentiken als Belege für Kontakt und Austausch

Wenn Authentiken in einer besonderen Schrift geschrieben stehen, die Rückschlüsse auf den Entstehungsort erlaubt, lassen sich bisweilen Kontakte zwischen Klöstern oder anderen Institutionen aufzeigen, für die es andernorts keine Anhaltspunkte gibt. In Chelles wurden beispielsweise Reliquien „vom Barte des heiligen Bonifatius“ verehrt. Dass diese direkt aus Fulda, dem Wirkungs- und Begräbnisort des Heiligen, stammten, legt die Schrift der frühmittelalterlichen Reliquienauthentik nahe. Es handelt sich um eine insulare Minuskel, eine Regionalschrift, die außerhalb des irischen und angelsächsischen Bereichs nur in wenigen Zentren auf dem Kontinent Verwendung fand. Eines dieser Zentren war Fulda. Über die Reliquie und die Authentik des Bonifatius im nordfranzösischen Kloster wird die Verbindung zwischen Fulda und Chelles sichtbar.

Authentiken als hervorragende Zeugnisse der Alltagsschriftlichkeit

Authentiken wurden zusammen mit den Reliquien üblicherweise verborgen im Reliquiar oder Altar aufbewahrt. Sie waren so den Blicken der Gläubigen entzogen und nur in Ausnahmefällen sichtbar. Das erklärt vielleicht, warum sie in vielen Fällen einer sprachlichen Korrektur späterer Leserinnen und Leser entgangen sind. Auf ihnen finden sich Formen, die man aus heutiger Sicht als grammatikalisch oder orthographisch nicht korrekt bezeichnen würde: spungia statt spongia („Schwamm“) oder reliquias sancti crucem statt reliquiae sanctae crucis („Reliquien des heiligen Kreuzes“). Im letzten Fall kann man reliquias (Akkusativ Plural) statt reliquiae (Nominativ Plural) gut damit erklären, dass sich der Akkusativ in den romanischen Sprachen als Universalkasus durchsetzen wird.

Die Form reliquies, die ebenfalls auf den Reliquienauthentiken bis zum Jahr 800 vertreten ist (z. B. auf den Authentiken von Chelles, Mainz und Vergy), zeugt hingegen von einem Wechsel der Deklination – und zwar von der a- zur e-Deklination. Sie ist nur eine der Möglichkeiten die „heiligen Hinterlassenschaften“ auf Latein zu bezeichnen, denn diese werden beispielsweise auch memoria, patrocinia, pignora oder nomina genannt.

Reliquienauthentiken demonstrieren sprachliche Phänomene. Ihre Protokolle ähneln sich oft. Die kleinen Texte reichen von der bloßen Etikettierung im Genetiv – z. B. sancti Petri („des heiligen Petrus“) oder Dativus possessivus (z. B. sanctDamiano) über formelhafte Wendungen wie hic sunt reliquias/reliquiae … („Hier befinden sich die Reliquien…“) bis zu ausführlicheren Biogrammen. Im Laufe der Zeit entwickeln sich standardisierte Echtheitszertifikate.

Viele der zitierten Beispiele stammen aus Chelles. Dabei handelt es sich um einen der größten frühmittelalterlichen Reliquien- und Authentikenbestände. Das Forschungsvorhaben von Dr. Kirsten Wallenwein hat sich die systematische Sammlung und Auswertung der lateinischen Zeugnisse bis ins 9. Jahrhundert zum Ziel gesetzt, um die einzelnen Bestände vergleichend zu untersuchen. Im Rahmen der Arbeit im Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 »Materiale Textkulturen« konnte bereits ein umfangreiches Corpus zusammengetragen werden. Dieses soll gegen Projektende in Kooperation mit Dr. Gustavo Riva von der Universitätsbibliothek Heidelberg als digitale Plattform veröffentlicht werden und so die frühmittelalterlichen Authentiken in Text und Bild für alle zugänglich machen.


Quellenangabe Header: Frühmittelalterliche Inventarauthentik mit Mainzer Schriftheimat (saec. VIII²/um 800), © Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Best.: U 1 Nr.: 15 a (Reliquienauthentiken). Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Dom- und Diözesanarchivs Mainz.

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