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Der britische Blick auf Deutschland – Gesandtenberichte der Jahre 1816 bis 1897

Dr. Markus Mößlang

Das Editionsprojekt „British Envoys to Germany“ öffnet den Zugang zur umfangreichsten englischsprachigen Quelle über Deutschland und die deutsch-britischen Beziehungen im 19. Jahrhundert. Die Berichte der britischen Gesandten aus den deutschen Staaten bieten weit mehr als nur diplomatische Einblicke – sie zeichnen ein lebendiges Bild von Deutschlands föderaler Struktur und seiner politischen, sozialen und kulturellen Vielfalt.


Über kaum ein anderes Land war das Londoner Foreign Office im 19. Jahrhundert besser unterrichtet als über Deutschland. Dies lag weniger an Deutschlands Rolle im Konzert der europäischen Mächte oder an den engen dynastischen Verflechtungen mit Großbritannien, sondern an der gleichzeitigen Entsendung zahlreicher britischer Diplomaten in die verschiedenen deutschen Einzelstaaten. Von dort berichteten die britischen Gesandten oftmals mehrmals wöchentlich, manchmal sogar mehrmals täglich. Die Originale dieser Depeschen liegen in den National Archives in Kew bei London.

Die Standorte der Gesandten

Mit Ende der Napoleonischen Kriege und dem Wiener Kongress nahm Großbritannien (erneut) diplomatische Beziehungen zu den Staaten des 1815 gegründeten Deutschen Bundes auf. Das dichte Netz von Vertretungen in Wien, Berlin, München, Stuttgart, Dresden, in Frankfurt beim Deutschen Bundestag, Hamburg (ab 1836), Hannover (1838), Coburg (1842) sowie Darmstadt (1866) war in der britischen Außenpolitik ein singuläres Phänomen. In keinem anderen Land war Großbritannien so präsent wie in Deutschland und auch nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 gab es in Berlin, Darmstadt, Dresden, München und Stuttgart noch fünf eigenständige Missionen; vier davon bestanden bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen im August 1914.

British interests

Ausgestattet mit dem Auftrag alles Berichtenswerte nach London zu senden, verfolgten die britischen Gesandten – bis 1863 gab es nur in Wien einen Botschafter – neben den Tagesfragen der internationalen Politik auch die innerdeutschen Ereignisse und Entwicklungen. Dies geschah vor allem, aber nicht nur, wenn die Ereignisse von überregionaler und sicherheitspolitischer Bedeutung waren. In der Ära des Deutschen Bundes (1815-1866) richteten sich die British interests auf die konstitutionelle Entwicklung der deutschen Staaten und ihr  – aus britischer Sicht – antirevolutionäres Potential, die deutsche Handels- und Zollpolitik sowie den österreichisch-preußischen Dualismus.  Nach 1866, als Österreich aus dem Staatenbund ausschied und damit aus dem Editionsprojekt ausgeklammert wird, wurde die Deutsche Frage unter dem Vorzeichen preußischer Vorherrschaft behandelt. An der britischen Deutschlandpolitik änderten die kritischen und differenzierten Rückmeldungen wenig. In funktionalistischer Tradition und dem Prinzip der Non-Intervention verpflichtet, wurde der Norddeutsche Bund, wie zuvor der Deutsche Bund, als stabilisierender Faktor im europäischen Staatensystem gesehen.

Multiperspektive – ein editorischer Glücksfall

Gerade in Zeiten unklarer Entwicklungen brauche man möglichst viele watchdogs – so verteidigte zumindest der ehemalige britische Außenminister Lord Malmesbury im Jahr 1870 die ungewöhnliche britische Multirepräsentanz in Deutschland. Für das Editionsprojekt ist das ein Glücksfall: Die gleichberechtigte Berücksichtigung der Berichte der kleineren Missionen, die neben der Botschaft in Berlin aufrechterhalten wurden, ergänzt den in der Geschichtsschreibung dominierenden, preußenzentrierten (Außen-)Blick auf Deutschland. Als zeit- und ortsgebundene Wahrnehmungen dokumentieren die Berichte nicht nur das heterogene, sich wandelnde britische Deutschlandbild, sondern auch die Offenheit der Entwicklungspfade deutscher Nationsbildung. Auch in Hinblick auf die deutsch-britischen Beziehungen und die zyklisch aufscheinenden Verstimmungen durchbricht die Langzeitperspektive der Edition das auf die Julikrise von 1914 gerichtete Narrativ von zunehmender Entfremdung und Antagonismus. British Envoys stellen damit eine wichtige Ergänzung zu den großen Akteneditionen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs dar.

Wahrnehmung und Perspektive

Der besondere Wert der Gesandtenberichte liegt in den zahlreichen zusammenfassenden Bewertungen und den ihnen zugrunde liegenden Wahrnehmungsmustern. In den oft bissigen Kommentaren offenbart sich nicht zuletzt die Überzeugung von der Überlegenheit des eigenen, britischen und englischen politischen Systems. Der Blick auf Deutschland war immer auch ein Stück Selbstwahrnehmung. Das Kaiserreich wurde auch deshalb intensiv verfolgt, weil u. a. mit dem progressiven Wahlrecht, dem Sozialistengesetz oder auch dem Kulturkampf Themen berührt wurden, die Großbritannien – im Nachklang des Reform Act von 1867, im Zusammenhang mit den Rechten der Arbeiterklasse und der immanenten irischen Frage – zutiefst selbst berührten.

In der Korrespondenz offenbaren sich aber nicht nur die heterogenen Interessen Großbritanniens an Deutschland und seinen regionalen Eigenheiten, sondern vor allem auch die spezifischen Sichtweisen und Blickwinkel der Diplomaten. An kleineren Standorten erlaubte das ruhigere politische Fahrwasser tief in die lokale Lebenswelt einzutauchen – und zugleich auch die politischen und diplomatischen Entwicklungen in Wien, Berlin und anderer europäischer Hauptstädte zu spiegeln. Dies gilt für die Ära Metternich, den Vormärz, die 1848er Revolution und die Reichsgründungsphase ebenso wie für das Dauerthema ‚Orientalische Frage‘, die Schleswig-Holstein-Krisen der 1850er und 1860er Jahre, die deutsch-französischen Rivalitäten vor und nach dem Krieg von 1870 und dem beginnenden deutschen Kolonialismus in den 1880er Jahren.

Themenvielfalt und die Kulturgeschichte der Diplomatie

British Envoys bietet eine Vielzahl von Themen, die man auf Anhieb nicht in einer Edition diplomatischer Korrespondenz vermuten würde. Armenfürsorge und Schulwesen gehören ebenso dazu wie Abhandlungen über Cholera und Rinderpest oder Depeschen zu Liebigs´ Fleischextrakt oder die Dresdener Holbein-Ausstellung 1871. Die Öffnung der diplomatischen Sphäre für neue Inhalte ging dabei einher mit zunehmenden transnationalen Verflechtungen. Vor dem Hintergrund der Einführung der Telegraphie und des Aufkommens der Massenpresse dokumentieren die Gesandtenberichte den Wandel diplomatischer Praxis und Gestaltungsmacht – also akteurszentrierte Aspekte, die in der neueren Kulturgeschichte der Diplomatie besondere Berücksichtigung finden.

Die Editionsbände

Die Gliederung der insgesamt sieben Editionsbände, die eine Auswahl von insgesamt 2250 Gesandtenberichten präsentieren, folgt den Zäsuren der politischen Geschichte. Vier Bände (British Envoys to Germany, 1816-1829; 1830-1847; 1848-1850; 1851-1866) decken dabei die Ära des Deutschen Bundes ab, zwei Bände (British Envoys to the Kaiserreich, 1871-1883; 1884-1897) die ersten Jahrzehnte des Deutschen Reichs bis 1897. Alle Bände wurden in der Camden Series der Royal Historical Society veröffentlicht und sind bei Cambridge Core über die DFG Nationallizenz bzw. in Open Access abrufbar. Die Veröffentlichung des Supplementbandes British Envoys to Germany, 1867-1870 (abgeschlossen 2024) ist in Vorbereitung. Ein Kompendium britischer Diplomaten und ein Gesamtindex mit über 4.000 Einträgen, 27.000 Verweisstellen und den Regesten der edierten Depeschen runden das Angebot des Editionsprojekts auf der Website des DHI London ab.

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